Die Rentner von heute sollte man auf keinen Fall unterschätzen. Denn Vorsicht: Es könnten Revolutionäre sein!
Vielleicht gehörten sie zu den Jugendlichen, die vor 50 Jahren auf die Straße gegangen sind, um mit Allem aufzuräumen: Mit autoritären Strukturen, mit rigider Sexualmoral, mit Geschlechterungerechtigkeit, mit der Unterdrückung von Minderheiten und mit der globalen Ungerechtigkeit des Kapitalismus. Sie protestierten gegen den Krieg in Vietnam und gegen die Nazis. Die jetzt Siebzig- bis Achtzigjährigen, das ist die Generation der 68er: „Es lebe die Revolution!“
Meist wird die 68er-Bewegung mit West-Berlin oder Frankfurt am Main in Verbindung gebracht. Doch was geschah in dieser Zeit in der Provinz?
Die Ausformungen der Bewegung in der Region Lippe zeigt eine außergewöhnliche Ausstellung im Ziegeleimuseum in der Stadt Lage (35.099 Einwohner) am Rande des Teutoburger Waldes, die noch bis Ende September diesen Jahres läuft. Um den konservativen Ritualen und Festen der Dorfgemeinschaften zu entfliehen, suchten die jungen Menschen dort nach neuen Freizeit- und Gestaltungsmöglichkeiten. Sie trafen sich in Szenekneipen und Jugendzentren, wo Bands aus der Region aktuelle Songs coverten oder eigene Kompositionen spielten. Manche lebten in alternativen Wohngemeinschaften, häufig in alten Kotten auf dem Land, also „Land-Kommunen“, und bauten selbst Gemüse an. Andere gründeten linke Buchläden und erste Bioläden. Gezeigt werden unter anderem Videos, Fotografien und Plakate sowie Objekte aus dem Umfeld der damaligen Akteure – vom Rucksack eines Indienreisenden bis hin zur Sendeanlage eines illegalen Musiksenders.
„Die Provinz war Laboratorium und Werkstatt. Hier wurde ausprobiert, was man mit den neuen Ideen, die da kamen, machen kann,“ erklärt der Historiker und pensionierte Lehrer Hans-Gerd Schmidt in seinem umfangreichen Buch Die 68er-Bewegung in der Provinz: Vom Rock’n‘ Roll und Beat bis zur Gründung der Grünen in Lippe, das auch die Grundlage für die Ausstellung in Lage bildet.
Um detaillierte Einblicke in die lippische Protestgeschichte zu erhalten, führte der Autor u.a. 190 Zeitzeugen-Interviews. Vielleicht eine schöne Anregung, mal in der eigenen Region ein bißchen den rebellischen Spuren nachzuforschen …
Und was bleibt heute noch von dieser Zeit? Vor allem der Wunsch nach Veränderung und die grundsätzliche Frage „Wie wollen wir eigentlich leben?“, hat der Soziologie Heinz Bude in seinem aktuellen Buch Adorno für Ruinenkinder bilanziert. Heute zwingt uns (eigentlich) der Klimawandel, unseren Lebensstil zu überdenken, von dem die 68er freilich noch gar nichts wussten.
Zum Erbe der 68er zählt auch die Bürgerbeteiligung, die aus den Emanzipationsbemühungen dieser Generation gegenüber allen Autoritäten entstand und sich zunächst in Bürgerinitiativen formierte. Deren Ziel war es, eine außerparlamentarische Opposition (APO) zu organisieren und Gesellschaft von unten zu formieren, hat der Planungstheoretiker Prof. Dietrich Fürst in seinem Beitrag für die Jahrestagung Partizipation als Planungsstrategie? in Oldenburg 2015 ausgeführt. Die Forderung nach (mehr) Partizipation hat heutzutage durch planerische Großprojekte wie z.B. Stuttgart 21, Tempelhofer Feld und Stromtrassen und die Grenzen der angewandten staatlichen Steuerungsinstrumente wieder eine Aktualität bekommen.
Ludwig Binder Haus der Geschichte Studentenrevolte 1968 2001 03 0275.4229 (16463730094) von Stiftung Haus der Geschichte (2001_03_0275.4229) (CC BY-SA 2.0), via Wikimedia Commons