Am 16. Oktober 2017 war es in Wuppertal soweit. Die Gewinnerideen des mit 150.000 Euro dotierten Bürgerbudgets standen fest! Gewonnen haben sechs Projektideen, die nun in den Haushaltsplan der größten Stadt im Bergischen Land in NRW eingehen und in den kommenden zwei Jahren umgesetzt werden sollen. Darunter ein Spielplatz, ein Urban-Gardening-Großprojekt, eine autofreie Straße und eine Taschengeldbörse, die den Kontakt zwischen Jugendlichen, die ihr Taschengeld aufbessern möchten, und Senioren herstellt, die sich Unterstützung bei einfachen, ungefährlichen, haushaltsnahen Tätigkeiten wünschen.
Das Besondere bei solch einem Bürgerbudget ist, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht nur Ideen entwickeln und vorschlagen dürfen, sondern auch darüber abstimmen, für welche Projekte der vorher festgelegte und garantierte Betrag tatsächlich verwendet wird („echtes Geld, echte Projekte, echte Macht“). Diese direktdemokratische Form der Beteiligung durch Entscheid über die Haushaltsprioritäten einer Stadt oder eines Stadtteils geht auf das Modell des „orçamento participativo“, auf deutsch Bürgerhaushalt oder auf englisch „participatory budgeting“ (abgekürzt PB) zurück. Das wurde zum ersten Mal in Porto Alegre (bekannt auch durch das Weltsozialforum) eingesetzt, als 1988 der Partido dos Trabalhadores (auf deutsch „Partei der Arbeiter“) den Sieg bei den Gemeindewahlen errang und mit Olívio Dutra den Bürgermeister stellte. Transparenz und Beteiligung sollten dabei helfen, die finanziellen Mittel der Kommune effizienter zu verwenden und die Korruption zu bekämpfen. Und vor allem sollten die Favelas davon profitieren.
Von der brasilianischen Millionenstadt aus hat sich die Idee der Bürgerhaushalte inzwischen rund um den Globus verbreitet (Studie Bürgerhaushalte weltweit). Für Deutschland weist der zuletzt vorgelegte 8. Statusbericht für 2015 insgesamt 71 Kommunen mit einem Bürgerhaushalt aus. Allerdings dominiert bei uns die vorschlagsbasierte Variante, die den Bürgern keine direkten Entscheidungsbefugnisse zubilligt. Kritiker wie z.B. Dr. Kai Masser bemängeln zudem, dass eine breite Beteiligung am Verfahren meistens nicht gelingt und Männer im fortgeschrittenen Alter mit überdurchschnittlicher Bildung und höherem Einkommen stark überrepräsentiert sind. Teilweise wurde das Verfahren auch zur Haushaltskonsolidierung „umfunktioniert“ (Bürgerbeteiligung und Bürgerhaushalte einfach nebensächlich?).
Daher spricht sich Prof. Roland Roth in seinem Beitrag Das demokratische Potential von Bürgerhaushalten für einen Neustart aus und hebt auf Seite 8 die Chancen von Budgets und Fonds insbesondere für ländliche Räume hervor:
„Budgets und Fonds können gerade in strukturschwachen ländlichen Räumen zu einem wirksamen demokratischen Mittel werden, Zukunftsperspektiven mit und durch die Einwohnerschaft zu entwickeln. Wichtige Voraussetzungen sind zum einen ihre lokal angepasste Ausgestaltung und Umsetzung. Zum anderen müssen sie sich als Beteiligungsverfahren daran messen lassen, wie weit sie selbst den demokratischen Ansprüchen von Transparenz, partizipativen Entscheidungsprozessen und öffentlicher Verantwortung genügen.“
Eine besondere Chance sieht Prof. Roth für ehemals selbständige Ortsteile von Großgemeinden, Gemeindeverbänden und Samtgemeinden. Mit lokalen Budgets oder Fonds kann ein Element ortsnaher Demokratie erhalten und partiell wiedergewonnen werden (Seite 6), ist er der Überzeugung.
Möglich ist auch eine Ausweitung auf die regionale Ebene, wie das Beispiele aus Peru und Indien sowie Frankreich, Spanien und Italien bereits vormachen (ebenfalls Studie Bürgerhaushalte weltweit, Seiten 35, 63, 75). Und unter dem Aspekt der alternativen Finanzierung von Projekten weist das Bürgerbudget Ähnlichkeiten zum Crowdfunding auf.
Typisch für den Ablauf von Bürgerbudets sind drei Phasen: So konnten in Wuppertal, um bei unserem Anfangsbeispiel zu bleiben, zunächst vom 3. bis 24. Mai 2017 Projektideen online eingereicht und bis zum 31. Mai bewertet werden (Phase 1). Insgesamt waren das 267 Vorschläge. Die 100 meistbewerteten davon (TOP 100) wurden dann am 7. Juni in einer Bürgerwerkstatt vorgestellt (Phase 2), wo 170 Bürgerinnen und Bürger mitmachten und prüfen konnten, welche Projekte den größten Mehrwert für die Stadt haben (Gemeinwohlcheck). Übrig blieben so 30 Projektideen (TOP 30), die im Anschluss von der Verwaltung auf Umsetzbarkeit überprüft wurden. Die Schlussabstimmung (Phase 3) erfolgte dann auf einer Wahlparty am 14. September und war online bis 5. Oktober möglich. An der Abstimmung haben sich 1.627 Wählerinnen und Wähler beteiligt.
Das Bürgerbudget Wuppertal ist eines von vier Pilotprojekten (mit Mailand, Lissabon und Říčany in Tschechien) innerhalb des EU-Projektes EMPATIA. und wurde von Zebralog, einer Agentur für crossmediale Bürgerbeteiligung, als Projektpartner begleitet. Weitere Anregungen bietet die Kreisstadt Eberswalde im Nordosten von Brandenburg, wo das Verfahren einfach und gut erklärt ist und bereits zum siebten Mal durchgeführt wird.
Foto von zebralog