Der neue Waldspaziergang

Ständig erreichbar sein, überall Mails und News checken können: „Hat uns diese digitale Revolution wirklich bereichert?“, fragt der Deutschlandfunk. Ausgerechnet aus dem Silicon Valley kommt die Gegenbewegung Digital Detox, digitales Entgiften.

Doch zum größten Gegentrend unserer Zeit wird nach Meinung der Zukunftsforscher Achtsamkeit oder „Mindfulness“ auf Englisch, was nach wabernder Esoterik klingt, im Grunde aber nicht anderes bedeutet, als die Fähigkeit, bewusster zu leben und auch mal abzuschalten: Menschen machen dafür Entschleunigungs-Seminare, legen sich auf die Yoga-Matte und buchen Entspannungskurse. Oder gehen zum Abschalten in den Wald, der zur Zeit ja auch wieder eine Art Renaissance erlebt (Holz, Wandern, Geocaching, Baumwipfelpfad, Baumhaus, Waldküche, Waldhonig, Waldkindergarten, Waldbestattung usw.).

Den Waldspaziergang gibt es jetzt sogar auf Rezept, wenn auch vorerst nur als Privatrezept, also zum Selberzahlen, und zwar im Ostseebad Heringsdorf (8.839 Einwohner) auf der Insel Usedom. Am 13. September 2017 wurde dort nämlich der erste deutsche Heilwald per Rechtsverordnung in Kraft gesetzt. In der Ruhe des 50 Hektar großen Buchenwaldes können die Patienten nun unter Anleitung Atem- und Bewegungsübungen machen und psychosomatische Beschwerden wie Burnout, Depressionen oder Schlaflosigkeit lindern. Der Heilwald wurde sogar zur handyfreien Zone erklärt, um ein störungsfreies Naturerleben zu ermöglichen.

Doch auch ohne Funkverbindung ist der Wald ein Ort der regen Kommunikation, hat der Biologe Clemens Arvay am 25. April 2017 im Interview mit der Wissenschaftssendung nano erklärt:

„Wir können uns den Wald als einen einzigen riesengroßen Organismus vorstellen, wo Bäume und andere Pflanzen Botschaften untereinander austauschen. Zum Beispiel über Schädlinge, die im Anrücken sind. Das geht so weit, dass von Baum zu Baum auch Informationen über die Art und Größe der Schädlingsarmee weitergegeben werden. So können alle Pflanzen ihre Immunsysteme hochfahren und sich mit vereinten Kräften gegen die Invasion schützen. Um sich gegenseitig Botschaften zukommen zu lassen, benutzen die Pflanzen chemische „Wörter“, bioaktive Substanzen aus der Gruppe der Terpene. Das sind Duft- und Botenstoffe, die überall in der Waldluft herumschwirren und über die Blätter, die Borke und die Wurzeln abgegeben werden. Manchmal können wir sie im Wald auch riechen, denn Terpene sind die wichtigsten Bestandteile der ätherischen Öle aus Bäumen und Pflanzen.“

Faszinierend ist dabei, dass das menschliche Immunsystem ganz ähnlich reagiert und unsere Widerstandskräfte gestärkt werden: Denn wenn wir Terpene wie etwa die sogenannten Limonene und Pinene aus der Waldluft einatmen, werden die natürlichen Killerzellen angeregt, die die Aufgabe haben, Viren auszuschalten und Tumore aufzuspüren. Bereits ein Tag im Wald führt zu einem 40-prozentigen Anstieg unserer wichtigsten Abwehrtruppen im Blut.

Wenn wir mit der Natur interagieren und sie uns positiv beeinflusst, tritt der Biophilia-Effekt (Biophilie von altgriechisch bios „Leben“ und philia „Liebe“) ein, den Clemens Arvay in Anlehnung an den Psychoanalytiker und Philosophen Erich Fromm für seinen gleichnamigen Besteller von 2015 verwendet hat. Fromm wollte damit die Sehnsucht der Menschen nach der Natur ausdrücken, die heute viele Städter haben (Urban Gardening) und was auch eine Chance für das Leben auf dem Land und insbesondere die Naturlandschaften und den Tourismus sein kann. Ebenso können von dem Biophilia-Effekt Forderungen für gesunde Wälder und den Naturschutz sowie für mehr Bäume und Grün in den Großstädten abgeleitet werden.

Den gesundheitsfördernden Effekt der Terpene in der Waldluft hat als erster der Umweltimmunologe Professor Qing Li von der Nippon Medical School in Tokio in zahlreichen Feldstudien untersucht und damit auch nachgewiesen, dass uns Bäume nicht nur psychisch gesund machen, also zur Ruhe und zum Abschalten bringen können, sondern auch körperlich. Er gilt als Pionier der Waldmedizin, die seit 1982 in Japan staatlich anerkannt ist und von den Krankenkassen gefördert wird.

Auch die Idee der Heilwälder stammt von dort und geht auf das Konzept mit dem schönen Namen 森林浴, wörtlich übersetzt „Waldbaden“ zurück, das in Japan eine lange Tradition in der Volksmedizin hat. Wasser oder gar eine Badewanne sind aber nicht nötig. Vielmehr ist Waldbaden ein kurzer, geruhsamer Ausflug in den Wald, bei dem man bewusst einatmet und dann die würzigen Stoffe des Waldes und die Waldatmosphäre aufnimmt. Wandern oder Sport treiben schadet nicht, muss man aber nicht unbedingt machen.

Ein Drittel von Deutschland ist bekanntlich mit Wald bedeckt (in Japan sogar 67 Prozent), da dürfte das neue Waldspazierengehen leicht zu praktizieren sein. Laut Arvay sind die Nadelwälder besonders interessant, weil Kiefern, Fichten und Tannen die meisten Terpene abgeben. Aber auch Laubbäume geben welche ab. Besonders viele werden über die Borke freigesetzt und auch über die Haut können wir Terpene aufnehmen, daher ist das Umarmen von Bäumen gar nicht lächerlich. Nach Regen oder bei Nebel ist der Terpengehalt im Wald besonders hoch. Im Sommer ist die Konzentration am höchsten, im Winter nimmt sie ab, erreicht aber niemals Null.


Photo by Aaron Burden on Unsplash

Von Jens Lilienbecker

Was? Wie? Warum? Bei unserem Büro für Geographie und Kommunikation beschäftige ich mich mit gesellschaftlichen Trends und zeige auf Zukunft der Region Chancen und Potentiale für Regionen und Gemeinden im ländlichen Raum.

2 Kommentare

  1. Hallo Herr Lilienbecker,
    ein interessanter Beitrag, der auf jeden Fall zum Anders-Denken anregt.
    Aber eine Frage: Woher stammt den die Aussage: „Bereits ein Tag im Wald führt zu einem 40-prozentigen Anstieg unserer wichtigsten Abwehrtruppen im Blut.“
    Sie haben da keine Quelle genannt.

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